16

 

 

 

Schweigend saßen Willem und Pia im Auto, beobachteten neidisch die Menschen, die in Parks, Kinos und Museen strömten, Vergnügungen nachgingen, an denen sie nicht teilhaben konnten. Sie hatten mit dem Leben, das sich um sie herum abspielte, nichts zu tun, waren aus den allgemeinen Abläufen herausgefallen. Sie waren gezwungen, in Pias Dachwohnung zurückzukehren wie Ausgestoßene auf eine abgelegene Insel. Pia schloss die Haustür auf, und das kalte Blau der Wände und steilen Stufen schlug Willem bedrohlich wie eine Welle entgegen.

Es half nichts. Er musste springen. Laut fiel hinter ihm die Tür zu. Das Bild von Nikitas gelbweißem Körper, der oben auf sie wartete, vergrößerte sich nach jeder Treppenbiegung vor seinen Augen, wurde deutlicher, bedrohlicher. Pia ging vor ihm. Plötzlich drängte sich Willem an ihr vorbei, nahm ihr im Vorbeigehen den Schlüssel aus der Hand und stürzte hinauf. Hastig öffnete er die Tür, stolperte über die beiden Stufen zwischen Küche und Wohnzimmer und riss den Vorgang auf.

Erst jetzt blieb er stehen, ganz außer Atem, machte dann einen Schritt nach vorn, schlug die Decke zurück. Nikitas Körper hatte große violette Flecken, vor allem auf dem Brustkorb, aber auch an den Händen und Füßen. Willem nahm auch das Kissen von Nikitas Gesicht. Er erschrak. Das Kissen war ganz feucht, getränkt mit Nikitas Speichel. Sein Mund war weit aufgerissen.

Willem wurde bewusst, wie sehr Nikitas großer starker Körper sich gewehrt haben musste. Den Bruchteil einer Sekunde spürte er das Verlangen, sich niederzuwerfen und den Leichnam anzubeten. Doch dann bemerkte er, wie Pia hinter ihm stand. Er drehte sich um und sah Verzweiflung in ihren Augen.

»Alles wird gut«, sagte Willem.

Er wollte jetzt nicht schwach werden. Er durfte es nicht. Wenn er es nicht aushalten könnte, würde Pia zusammenbrechen. Er führte Pia behutsam aus dem Schlafzimmer hinaus.

Willem suchte nach dem fleckigen Sweatshirt und der Arbeitshose, die er am Morgen aus dem weißen Lieferwagen genommen hatte. Er fand sie zusammengerollt in der Küche. Beides brachte er ins Schlafzimmer und legte es vor das Bett. Dann holte er das Isolierband, das er ebenfalls in dem Wagen gefunden hatte, sowie eine Schere und eine Rolle mit Mülltüten aus der Küche. Alles legte er zu den übrigen Dingen auf den Boden. Pia stand im Wohnzimmer und rauchte. Sie beobachtete Willem, ohne ein Wort zu sagen.

»Wo hast du die Sachen hingetan, die Nikita anhatte?«

»Sie liegen im Bad«, antwortete Pia, scheinbar ungerührt.

Willem ging ins Badezimmer und entdeckte Nikitas schwarzen Lederblouson unter dem Spülbecken. Aber nur das weiße T-Shirt und das blaue Hemd, die in dem Blouson lagen, waren leicht dunkelrot gefärbt. Nikitas Jeans hatte nur am Bund Blutflecken, seine Boxershorts sogar nur ein paar rote Punkte am Gummizug. Seine Strümpfe konnte Willem nicht finden. Er nahm nur die Boxershorts, warf den Rest auf die Lederjacke und knotete ihre Arme zusammen.

»Du musst mir helfen, Pia. Wir müssen ihn ankleiden.«

Sie hatte sich gerade eine weitere Zigarette angezündet, nahm noch einen Zug und drückte sie aus.

Willem ekelte sich davor, die Leiche anzufassen. Sie fühlte sich kalt und trocken und wächsern an. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass Willem einen Toten berührte. Er zog das weiße Badetuch hervor, getränkt von dem Blut aus der Schusswunde. Anschließend hob er Nikitas Körper an, drehte und wendete ihn, je nachdem, wie es die umständliche Operation erforderte, die Willem mit knappen Anweisungen wie »Boxershorts«, »Sweatshirt«, »Arbeitshose« vorgab, und die Pia dann akkurat ausführte. Die Schusswunde war in der Mitte scharf gerändert, aber farblos, kaum zu sehen.

»Wo sind die Strümpfe?«, fragte Willem knapp.

»Ich weiß nicht, vielleicht im Wäschekorb im Bad?«

»Hast du welche da, die ihm passen könnten? Ein paar Tennissocken?«

Pia wühlte tief unten in ihrem Schrank und brachte ein paar Tennissocken hervor, die sie Willem reichte.

»Von meiner Vermieterin. Sie hat einen Teil ihrer Kleidung hier gelassen.«

Willem dehnte die Socken in die Länge, bevor er sie Nikitas Füßen überstülpte. Noch war die Leichenstarre nicht voll eingetreten. Nikitas Glieder ließen sich biegen, gaben kaum Widerstand. Noch mehr als vor der Berührung mit der Leiche ekelte sich Willem vor ihrem Geruch. Sie roch nach kaltem Schweiß, der ihm langsam in Mund und Nase stieg und sich auf Zunge und Gaumen legte. Willem dachte, dass die Ausdünstungen mit der Zeit noch schlimmer würden. Wie lange war Nikita tot? Sechs, acht oder schon zehn Stunden? Willem wollte nicht nachrechnen.

Pia hielt es nicht mehr aus. Sie wurde käsebleich und rannte hinaus. Willem hörte, wie sie sich im Badezimmer heftig erbrach. Auch er musste eine Pause einlegen.

Willem ging ins Wohnzimmer, wo Pia flach auf der Couch lag. Sie hielt sich eins der geblümten Kissen vor ihr Gesicht. Willem setzte sich hin und zündete sich eine Zigarette an. Gleich ginge es weiter. Und vielleicht könnte er den Rest alleine schaffen.

Nach zehn Minuten kehrte Willem in das Schlafzimmer zurück und machte sich daran, vier graue Mülltüten mit der Schere aufzuschneiden. Die aufgeschnittenen Tüten legte er glatt wie Planen aufs Bett, auf die er die Leiche rollte. Er nahm das Isolierband, schnitt lange Streifen ab und klebte die Mülltüten hinter Nikitas Rücken zusammen. Es würde nicht lange halten, aber das brauchte es auch nicht, dachte Willem. Er öffnete das Fenster im Schlafzimmer, bevor er den schweren Vorhang hinter sich zuzog und sich wieder zu Pia setzte. Sie lag immer noch ausgestreckt auf der Couch.

»Hast du Whisky oder Cognac im Haus?«

Pia rührte sich nicht.

»Im Kühlschrank. Bedien dich!«

Bereits in der Küche trank Willem ein halbes Wasserglas mit Whisky in einem Zug aus. Ein weiteres halbes Glas nahm er mit ins Wohnzimmer.

Sie mussten die Leiche noch die ganzen Treppen hinunterschaffen und ins Auto hieven. Aber erst später, in frühestens einer Stunde. Denn erst dann würde es draußen dunkel sein.

Willem trank das Glas aus, kniete sich vor die Couch und legte seinen Kopf in Pias Schoß. Sie begann ihn sanft zu streicheln. Es tat ihm gut, eine warme, durchblutete Hand in seinem Nacken zu spüren.

»Willem? Willem!«

Pia bewegte sich unter ihm, wollte aufstehen. Willem war sofort wach, sah aber kaum etwas. Im Zimmer war es stockfinster. Willem suchte nach Halt, wollte sich auf den Tisch stützen, stieß dabei an den Revolver, der laut auf den Boden krachte. Pia knipste eine Leselampe auf dem Regal an.

»Gut, dass das verdammte Ding nicht losgegangen ist«, sagte er und legte die Waffe an ihren alten Platz.

Seine Knie waren weich vom Whisky und der gekrümmten Haltung, in der er die letzte Stunde verbracht hatte. Willem zog den Vorhang zum Schlafzimmer beiseite, schloss und verdunkelte das Fenster und machte Licht. Er betrachtete das Paket aus grauen Mülltüten, das unförmig auf dem Bett lag. Man hätte es für einen ungeschickt verpackten Teppich halten können, dachte er, oder für eine ungeschickt verpackte Leiche.

Pia kam aus dem Bad und baute sich dort auf, wo sie Nikitas Beine vermutete. Sie sprachen nicht, nicht über das, was nun zu tun war. Willem zwängte seine Arme unter Nikitas Rücken. Sie sahen sich an, zählten in Gedanken bis drei und zogen das Paket zu sich hin. Bums! Es landete mit einem dumpfen Knall auf dem Boden. Die Mülltüten waren bereits verrutscht. Willem fixierte sie mit weiteren Streifen Isolierband.

Er stellte sich nun breitbeinig über Nikitas Kopf, versuchte mit den Händen an Nikitas Nacken einen Halt zu finden. Zentimeter für Zentimeter beförderten sie das Paket aus dem Schlafzimmer, wobei sie es mehr schleiften als trugen. Im Wohnzimmer drehten sie umständlich die Leiche um, damit sie diese mit den Füßen zuerst aus der Tür hinaustragen konnten. Rums! Und wieder Rums! Das Paket polterte die beiden Stufen zur Küche hinunter. Und Rums! Nikitas Kopf schlug auf die untere Stufe. Willem streckte sich. Nikitas Gewicht lastete auf seinem Rücken. Die Mülltüten hatten sich längst verschoben, gaben Nikitas Bauch und Hüften frei.

Pia machte die Wohnungstür sperrangelweit auf, ging ein paar Stufen hinab und zog mit aller Kraft an Nikitas Beinen, ohne weiter auf die Mülltüten zu achten. Willem schlang seine Arme um Nikitas Oberkörper, machte zwei Schritte, schaffte zwei, drei, vier Stufen, fiel hin. Das Paket klemmte sein rechtes Bein ein.

Da hörten sie etwas. Zwei Etagen unter ihnen öffnete sich eine Tür. Jemand kam heraus.

»Hallo? Hallihallo? Ist da wer?«

Eine penetrant fröhliche Männerstimme stieg zu ihnen empor.

Pia ließ erschrocken Nikitas Beine fallen. Willem brauchte jetzt noch mehr Kraft das Paket festzuhalten. Pia stürzte die Treppe hinunter.

»Hallo, ich bin es nur. Miss Lopez.«

Sie lief dem Mann entgegen.

Willem beugte sich vorsichtig zum Geländer, blinzelte durch die Stäbe. Er sah einen Mann in dunkelgrauem Nadelstreifenanzug auf dem Treppenabsatz stehen. Sicherlich einer der Anwälte, vermutete Willem, der aus irgendeinem Grund am Sonntag arbeitete. Verdammt!

»Guten Abend, Mister Rusk.«

Pia stand jetzt vor ihm. Der Mann drehte sich zu ihr hin, so dass Willem ihn im Profil sah. Er hatte halblanges rotblondes Haar und dicke Koteletten und eine lange, spitze Nase. Willem wich zurück, um nicht entdeckt zu werden.

»Ah, meine schöne Nachbarin. Was stellt sie denn da oben an? Bei dem Lärm kann der liebe Onkel Bob gar nicht fleißig sein.«

Der Typ hörte sich widerwärtig freundlich an.

»Mister Rusk…«

»Ach, nein, liebe Freundin. Du sollst doch Bob zu mir sagen.«

»Ja, Mister Rusk, ich meine Bob. Ich bin gerade dabei zu packen. Und mir ist ein Koffer aus der Hand gefallen. Bitte entschuldigen Sie den Lärm.«

»Ach, verlässt uns unsere schöne Nachbarin? Das macht mich aber ganz traurig.«

»Ich muss morgen nach Spanien. Meine Mutter wurde plötzlich krank.«

Willem gefiel Pias Einfall. Nur sein rechtes Bein schmerzte unter der schweren Last, so dass er hätte schreien können. Außerdem hatte er kaum noch Kraft, das Paket zu halten.

Der Mann biss in einen Apfel und schmatzte unangenehm, während er sprach.

»Aber da kann ich doch meiner kleinen Nachbarin helfen. Du weißt doch, der liebe Onkel Bob ist immer für dich da.«

»Nein, vielen Dank, sehr freundlich, Mister Rusk.«

»Wie bitte?«

»Bob, ja. Ein Freund kommt später vorbei, um mir zu helfen.«

Warum sagte Pia nicht, dass er schon da war? Willem kämpfte mit dem Paket. Die Mülltüten glitten ihm Stück für Stück aus den Händen.

»So! Meine kleine Spanierin hat einen Freund. Aber der Onkel Bob dachte immer, er sei dein Freund.«

Jetzt rutschte das Paket. Willem kriegte Nikita gerade noch am Hals zu fassen. Nikitas Arme sprangen aus den Tüten.

»Hört Onkel Bob da nicht ein Geräusch? Sind wir beide wirklich alleine?«

Der Typ biss wieder in seinen Apfel. Willem hatte panische Angst, der Widerling könnte im nächsten Moment nach oben kommen. Was sollte er dann tun? Der Revolver! Willem beugte sich zurück, packte krampfhaft Nikitas Kinn, das er durch die Tüten spürte.

»Sollen wir beide nicht besser nach oben gehen und mal nachsehen?«

Der Widerling schien sich in Bewegung zu setzen. Willem wurde fast wahnsinnig. Der Revolver lag oben auf dem Tisch. Wenn der jetzt hochkommt, hole ich mir das Ding und knalle ihn ab, sagte sich Willem.

»Nein, nein. Mister… Bob. Es ist nichts. Ich komme allein zurecht. Wirklich.«

»Ja? Aber morgen muss meine kleine Nachbarin zu mir kommen, damit ich ihr Lebewohl sagen kann. Versprochen?«

»Versprochen!«

Pia kam wieder die Treppe hoch.

»Ach, beinahe hätte ich etwas vergessen.« Der Widerling drehte sich zu Pia. Konnte er denn keine Ruhe geben! »Bestell deiner Mami gute Besserung vom lieben Onkel Bob.«

Das Paket setzte sich in Bewegung. Willem hielt nur noch die Tüte in der Hand. Im letzten Augenblick konnte er es mit seinen Füßen stoppen. Die Tür unten fiel zu. Endlich war der Widerling verschwunden. Doch das Paket zog Willem erst eine, dann zwei Stufen weiter nach unten. Da kam Pia, ließ sich auf das Paket fallen. Willem rührte sich nicht. Auch Pia wagte es nicht, sich zu bewegen. Sie verharrten auf der Treppe.

Dann beugte sich Willem vor, zog mit all seinen Kräften Nikita zu sich hoch. Pia half, so gut es ging, von unten nach, Stufe für Stufe. Gleich hatten sie es geschafft. Alle drei lagen übereinander in der Küche. Pia gab der Wohnungstür mit dem Fuß einen Stoß. Sie waren vorerst gerettet.

Willem musste sich beherrschen.

»Warum hast du dem Kerl nicht gesagt, dass ich hier oben bin? Er wäre sofort wieder zu seinen Akten verschwunden«, fauchte er Pia mit kaum unterdrückter Wut an.

»Du kennst ihn nicht. Das hätte ihn erst recht neugierig gemacht. Dieser Typ denkt doch, ich würde es mit jedem Mann treiben, der hier in der Wohnung ist. Allein, um dich zu sehen, wäre er hochgekommen. Allein, um seine schmutzige Phantasie zu befriedigen.«

Pias Redeschwall brach ab. Ihr war wohl gerade wieder in den Sinn gekommen, dass sie auch mit Willem geschlafen hatte. Willem entgegnete nichts. Er ging an den Küchenschrank und füllte sich einen weiteren Whisky ein.

Pia bedeutete ihm, sich ruhig zu verhalten. Sie öffnete leise die Tür, um nicht zu verpassen, wie der Widerling das Haus verließ.

Nach etwa einer Stunde war es endlich so weit. Sie hörten ihn pfeifend die Treppe hinuntergehen.

»Ich sehe nach, Will, um auf Nummer sicher zu gehen.«

»Hier! Nimm die Wagenschlüssel mit und schließ schon mal den Kofferraum auf.«

Pia schnappte die Schlüssel.

Willem beugte sich zu Nikita und riss die Mülltüten auf, die ihn kaum noch bedeckten. Eine Tüte behielt er, wickelte sie eng um Nikitas Kopf und klebte sie dieses Mal sorgfältig fest. Die anderen steckte er in den Abfall unter der Spüle.

Ohne die Veränderung zu bemerken, stieg Pia bei ihrer Rückkehr über die Leiche.

»Will, ich habe mir etwas überlegt. Ich nehme alle meine Sachen mit. Ich will anschließend nicht hierher zurück. Ich kann das einfach nicht!«

»Ich verstehe.«

»Und den Schlüssel werfe ich in den Briefkasten von dem Typen unten. Er ist der Boss der Kanzlei. Ihm gehört das Haus.«

Pia zog einen kleinen Flugkoffer unter dem Bett hervor und schmiss in Windeseile Kleider, Blusen, Hosen, Wäsche hinein. Sie machte sich nicht die Mühe, irgendetwas zusammenzufalten. Sie setzte sich auf den Koffer, hämmerte mit der Faust auf die Schlösser, bis sie zuschnappten. In eine große Plastiktragetasche warf sie ihre Schuhe und schleppte die Tasche ins Bad, um ihre Waschutensilien abzuräumen.

»So! Das war es«, sagte sie nach weniger als fünf Minuten. »Es kann losgehen. Nimm du die Reisetaschen mit dem Geld!«

»Und Nikitas Lederjacke?«

»Habe ich auch hier.«

Pia zeigte auf die Plastiktasche. Bevor Willem die beiden schwarzen Sporttaschen hinter der Couch griff, steckte er sich den Revolver in den Hosenbund.

Unten angekommen, stellten sie Pias Gepäck und die Geldtaschen auf den Rücksitz von Willems Mercedes.

»Lieber Gott! Bitte, bitte, lass es das allerletzte Mal sein, dass wir hinaufsteigen müssen«, seufzte Pia laut vor sich hin, als sie die Treppen wieder erklommen. Willem hoffte dasselbe.

Oben ging Pia nochmals durch die Wohnung, zog das Bettzeug ab, leerte und spülte flüchtig den Aschenbecher, ebenso Willems Whiskyglas.

»Um den Rest kann sich die Putzfrau kümmern. So! Good-bye und auf Nimmerwiedersehen!«

Energisch klemmte sich Pia Nikitas Beine unter die Arme und wollte gleich losmarschieren.

»Warte doch!«

Willem zog die Tür hinter sich zu und fasste Nikita unter die Achseln. Er kam bei Pias Tempo kaum mit. Immer wieder rutschten seine Hände ab, die Leiche fiel hin. Sie war inzwischen fast steif. Willem stolperte. Auch auf den Treppenabsätzen, wo Willem stets Nikita hinlegte, um seine Kräfte zu sammeln, zerrte Pia weiter an der Leiche, obwohl sie kaum vorankam.

Nach gut zwanzig Minuten hatten sie ihr Werk vollbracht. Nikita ruhte fünf Stockwerke tiefer sanft im Flur. Pia wäre am liebsten sofort zum Wagen gegangen, hätte Willem sie nicht aufgehalten.

»Mach erst das Licht aus! Und sieh nach, ob jemand auf der Straße ist.«

Pia steckte ihren Kopf hinaus.

»Die Luft ist rein.«

»Jetzt öffne den Deckel vom Kofferraum!«

Pia tat, wie ihr befohlen.

Mit Trippelschritten schleiften sie Nikita vom Flur zum Wagen. Stöhnend hoben sie ihn hoch, erst den Oberkörper, dann die Beine. Rums! Die Leiche sackte in den Kofferraum, der Wagen wippte nach. Nur einen Augenblick später fuhr Willems gelber Mercedes sacht und lieblich in die blaue Nacht hinein.

Es war kurz nach zehn Uhr abends, als Willem und Pia die New Cavendish Street hinter sich ließen. Ein paar Ecken weiter war noch Leben. Araber kauften Früchte ein oder saßen bei einem Tee oder Kaffee an kleinen Tischen vor grell erleuchteten Läden. Nur Männer waren zu sehen, keine Frauen. Hier herrschte nach wie vor reger Verkehr auf den Straßen, vor allem um Marble Arch herum.

Willem nahm die Park Lane am Hyde Park entlang, der sich rechts wie ein großes schwarzes Loch vor ihnen auftat. Am Hyde Park Corner wurde es wieder heller. Autos warfen nervös ihre Scheinwerfer in alle Richtungen. Willem fädelte seinen Mercedes in den hektischen Kreis ein, machte eine ganze Umrundung mit, scherte dann links nach Belgravia aus, fuhr mitten in die Stille hinein. Nur das Röhren des Motors durchbrach den fast majestätischen Frieden.

Im zarten Licht der Laternen wirkten die weißen Stadthäuser mit ihren prachtvollen Eingängen noch vornehmer und verschwiegener als bei Tag. Der Sloane Square lag brach und verlassen da. Selbst die King’s Road, über die vor wenigen Stunden noch die Schönen und Betuchten Londons flaniert waren, schien jetzt, ganz unspektakulär, nur noch ein dunkler Schlauch zu sein.

Soweit Willem sich entsinnen konnte, hatte sich der Selbstmörder, von dem er im »Evening Standard« gelesen hatte, unweit von Croydon vor den Zug geworfen. Croydon lag im Süden von London. Wie sie dort hingelangen könnten, wusste Willem nicht. Er wollte sich einfach in Richtung Süden begeben. Er verließ deshalb die King’s Road, um über die Battersea Bridge die Themse zu überqueren.

Auf der anderen Seite des Flusses begann für Willem dunkles Neuland. Abgesehen von ein paar Stippvisiten in Brixton war er noch nie im Südteil Londons gewesen. Die spärlich angebrachten Hinweisschilder trugen Namen, die er bestenfalls vom Hörensagen kannte.

»Hast du eine Idee, wohin wir fahren müssen?«, fragte Pia ohne echtes Interesse.

Sie war erschöpft wie Willem und schien die Fahrt durch die Nacht ebenso entspannend zu empfinden wie er – trotz ihrer ungewöhnlichen Fracht, die hinten im Kofferraum auf ihre letzte Bestimmung wartete.

»Nein, keinen blassen Schimmer«, sagte Willem.

Er ließ sich weiter von der breiten Straße ins Ungewisse leiten, bog dann links ab, nur weil sich ein Hinweis nach Clapham vertraut anhörte. Rechter Hand öffnete sich die Straße zu einer gespenstisch weiten Fläche, auf der einsam ein paar Bäume standen. Dünnes Licht glimmte dahinter in fernen Häusern, die wie unbewohnte Miniaturen aussahen.

Willem folgte stur der Route, sah das rote runde Emblem einer U-Bahn-Station mit dem blauen Querbalken, »Clapham Common«, und steuerte den Wagen, da sich die Straße wieder leicht nach Norden neigte, an der nächsten Gabelung südlich weiter. Kein Fußgänger war weit und breit zu sehen, Autos nur wenige. Meistens saßen Farbige am Steuer, die sich, als billige Alternative zu den Londoner Taxis, zu später Stunde als Chauffeure verdingten und ihre Kunden in entlegenen Clubs und Kneipen einsammelten.

Nach ein paar Kilometern glaubte Willem einige triste Fassaden wieder zu erkennen. Auch war wieder eine Spur von Leben zu sehen. Passanten, Schwarze, auch einige Weiße, liefen unbekümmert durch die Nacht.

Pia schaute mit gelassener Neugier aus dem Fenster. Er hatte sich nicht getäuscht. Über einen riesigen Umweg, wie Willem nun bewusst wurde, waren sie nach Brixton gelangt. Willem erkannte das Kino wieder, das Café daneben und den Club gegenüber. Müssten sie nicht noch weiter nach Süden? Er hielt sich rechts, und wieder wurden die Straßen schaurig dunkel. Fuhren sie nicht zu weit nach Osten? Dulwich Road? Hatte er nie gehört. Die Straße führte ebenfalls nah an einem bedrohlich schwarz-grünen Park vorbei, ging dann – endlich! – direkt auf eine Bahnlinie zu.

Willem nahm sich vor, sich parallel der Bahnlinie zu halten. Croxted Road? Unbekannt. Schier endlos breiteten sich monotone Siedlungen mit den üblichen Einfamilienhäusern aus. Eins glich wie ein Ei dem anderen – roter Backstein, weiß getüncht die Ränder um Türen und Fenster, alle gleich. Dies waren also die öden Nester, die ganz London umzingelten, aus denen täglich die Pendler geschäftig wie Ameisen in die Stadt krabbelten! Kaum irgendwo brannte Licht, nur blaue Fernsehbilder huschten hier und da durch die Stuben. Mit der Zeit wurde die Bebauung lockerer. Kilometerlang verlief die Straße schon nebenher zur Bahnlinie, an die sich dahinter, er ahnte es mehr, als es zu sehen, Parks und kleine Wälder anschlossen.

»Ich glaube, hier finden wir eine passende Stelle.« Willem fuhr langsamer, bog links in eine schmale Straße ein, die über die Gleise hinwegführte. Er hielt an.

»Was meinst du?«

Statt einer Antwort zuckte Pia nur mit den Schultern. Willem stieg aus. Links und rechts der Brücke konnte er in der Dunkelheit nur weites Grün erkennen. Willem klopfte an die Beifahrertür. Auch Pia stieg jetzt aus.

»Mist, verdammter! Ich habe die Drahtschere vergessen.«

Pia machte sich an ihrer Plastiktasche auf dem Rücksitz zu schaffen und brachte, ohne eine Miene zu verziehen, die Schere zum Vorschein.

»Danke, vielen Dank.«

Willem atmete erleichtert auf. Er sprang die Böschung hinunter, fand, wie erwartet, einen Maschendrahtzaun, knipste ein Stück von etwa einem Quadratmeter heraus. Pia stand ungeduldig am Kofferraum, als Willem zurückkehrte.

Wie einstudiert, packte Willem Nikitas Oberkörper, Pia seine Beine. Sie setzten Nikita sofort vor dem Wagen ab. Willem griff sich nun das linke, Pia das rechte Bein. Mit vereinten Kräften zogen sie die Leiche über den Asphalt zur Böschung, schleiften sie dann, ohne viel Aufhebens zu machen, die Böschung hinab. Nur einmal rutschte Pia auf der lockeren Erde aus. Das war der einzige Zwischenfall, bis sie das Loch im Zaun erreichten. Pia stieg hindurch, griff sich Nikitas Hose und zog, während Willem ihr den Oberkörper entgegen schleppte. Im Nu kroch auch Willem durch den Zaun, über die Leiche hinweg. Wieder griff sich jeder ein Bein, schon lag Nikita lang und quer und tot auf den Gleisen.

Einen Moment dachte Willem daran, etwas zu sagen. Ein Gebet, einen Abschiedsgruß oder dergleichen. Er überlegte. »Ich bin der verlorene Sohn ohne Rückkehr.« Ja, das war es, was Nikita ihm damals bei ihrer ersten Begegnung im Pub am Fluss gesagt hatte. Doch Willem schwieg. Pia war bereits verschwunden.

Als er wieder im Auto saß, hörte Willem, wie Pia neben ihm leise weinte.